Der Sheriff

04.10.2019

Die Mutter machte so leise wie möglich die Kinderzimmertür auf. Sie war hier schon vor einer halben Stunde gewesen, als sie ihren Sohn schlafen legte. Jetzt war sie noch einmal zurückgekommen, um zu sehen, ob er schon schläft. Er war mit dem Rücken zur Tür gedreht und bewegte sich nicht, woraus sie annahm, dass er schon in seiner reichen Fantasiewelt war. Kaum war die Tür jedoch zu, wellte sich die Decke ein wenig, dann richtete sie sich auf und unter ihr tauchte der schwarzhaarige Kopf eines kleinen Jungen auf. Er glitt mit der Hand unter das Kopfkissen, wo er ein dickes, etwa dreihundert-seitiges Buch ertastete. Erst vor kurzem hatte er es zum Geburtstag bekommen. Jetzt zog er es unter dem Kissen hervor und griff nach der Taschenlampe, die neben ihm auf dem Nachttisch lag. Der Junge zog sich die Decke über den Kopf, machte die Taschenlampe an und begann zu lesen. Die Handlung des Buches spielte im Wilden Westen, in den sich der Junge hoffnungslos verliebt hatte. Eifrig las er Seite für Seite, als ob er Angst hätte, etwas zu verpassen. Er stellte sich vor, wie er in einem kleinen Städtchen sei, seine Beine steckten in ledernen Reiterstiefeln mit Sporen und um die Taille trug er einen breiten Gürtel mit einem Revolver. Seine Augen, die sich noch gerade flüchtig hin und her bewegt hatten, hielten plötzlich inne. Die Hauptfigur dieses Romans, Sheriff Johnson, der zum Idol des jungen Lesers geworden war, wurde von einem Banditen angeschossen. Der Junge ermutigte sich weiterzulesen, als er in Tränen ausbrach. Es sah so aus, als ob die Verletzung tödlich sei. Er las noch ein paar Seiten und wischte sich dann die Tränen ab, Johnson hatte überlebt. Ins Buch gab er ein Lesezeichen aus Papier, klappte es zu und legte es neben sich auf das Tischchen. Die spannende Geschichte hatte ihn völlig erschöpft. Die Taschenlampe machte er aus. Er dachte an den Sheriff und seufzte. Er war so froh, dass er noch am Leben war. Seine Gedanken schweiften aus dem Wilden Westen in die Gegenwart über. Die Taschenlampe machte er wieder an und leuchtete auf einen alten Stuhl in der Ecke des Zimmers, auf dem ein kurzer Mantel mit einem angenähten gelben Stern lag. Den Stern hatte ihm erst gestern seine Mutter angenäht und er freute sich schon, dass er ihn morgen seinen Mitschülern zeigen konnte. Aus ihm würde dann ein echter Sheriff werden, wie der aus dem Roman.

Prag, 23. September 1941