Nerviger Tod

18.01.2020

Es war der 28. Oktober, die meisten Leute gedachten der Gründung der Republik. Paul gedachte aber etwas anderes- des Jahrestags seiner zweijährigen Partnerschaft mit Emma. Genau vor zwei Jahren hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte. Und sie hatte ihn, statt zu antworten, geküsst. Als ob es gestern gewesen wäre, dachte er.

Er guckte auf die Uhr. Es war halb zwei, um zwei fuhr sein Zug. Von einem Kleiderbügel nahm er ein Hemd und eine Hose. Beides zog er an, zog noch ein Sakko darüber und ging aus der Wohnung.

Langsamen Schrittes ging er die Treppe runter, in Gedanken war er schon auf dem Bahnsteig. "Passen sie doch auf," beschwerte sich eine ältere Frau, als er sie anrempelte. Das riss ihn aus den Gedanken. "Entschuldigung, Entschuldigung, tut mir leid," murmelte er etwas überrascht. An der Haltestelle wartete schon der Bus. Paul machte ein paar schnelle Schritte und war bei ihm. Die Fahrkarte hatte er vergessen zu kaufen. Hoffentlich kommt kein Kontrolleur. Der Bus fuhr los. Leider fuhr der Fahrer viel langsamer, als er dachte. Ich hoffe, dass ich den Zug noch schaffe, der nächste fährt erst in zwei Stunden. Mit großer Verspätung kam der Bus an der Endstation an.

Als die Tür aufging, stürmte Paul zum Bahnhof. Er rannte so schnell, wie er nur konnte. Er rannte die Treppe hinunter, raste durch den Bahnsteigtunnel und stieg schließlich mit letzter Kraft die Treppen hinauf, die zum ersten Bahnsteig führten. Er war pünktlich- der Zug sollte erst in einer Minute kommen.

Paul atmete tief durch, er versuchte sich zu beruhigen. Die Gedanken glitten wieder zu Emma. Schlendernd ging er den Bahnsteig auf und ab.

Ach, Emma. Den letzten Jahrestag haben wir getrennt verbracht- du in Amerika und ich hier zu Hause. Nach deiner Rückkehr habe ich dir versprochen, dass wir den nächsten Jahrestag zusammen verbringen. Du hast gelächelt und hast mir dann gesagt, dass ich das nicht wissen kann. "Ich schwöre" habe ich geantwortet "ich schwöre, Emma, dass wir das nächste Mal zusammen sein werden, egal was passiert." Und dann hat dich vor einem halben Jahr ein Auto überfahren. Es war das schlimmste Halbjahr in meinem Leben, ich fühlte, dass ich ohne dich nicht mehr weiterleben kann. Der Zug kam an. Ich werde mein Versprechen halten, noch heute werden wir wieder zusammen sein!

Mit eiskalter Gelassenheit wartete er noch zwei Sekunden, damit er die Sicherheit hatte, dass ihn der Zug auch wirklich überfahren würde, dann sprang er.

Der Lokführer sah nur, wie etwas vor den Zug huschte, unmittelbar danach zuckte die Maschine ein wenig und er wusste gleich, was passiert war. Er hatte so was schon einmal erlebt, am Anfang seiner Karriere. "Ach du Scheiße!" fluchte er erschrocken. Augenblicklich zog er die Bremse, es war aber schon zu spät. Paul, unter dem Zug eingeklemmt, überlebte den Zusammenstoß nicht.

Als fünf Kilometer weiter eine Lautsprecherdurchsage die Reisenden mit monotoner Stimme informierte, dass der Zug wegen Personenschaden auf der Strecke nicht weiterfahre, verdrehte ein fünfzehnjähriges Mädchen genervt die Augen.

"Das ist doch wohl nicht ihr Ernst, da ist schon wieder jemand vorn Zug gesprungen. Wegen irgendeinem Versager schaff ich jetzt mein Basketball nicht, das ist schon echt nervig!"